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Cyberpeace – Vertrauen und Abwehr


Stefan Hügel

Unsere Gesellschaft basiert auf Vertrauen, diese Bedeutung hat Niklas Luhmann (1968) bereits lange vor dem Siegeszug des Internet herausgearbeitet. Nach Luhmann ist Vertrauen notwendig, um die soziale Komplexität unseres Umfeldes zu reduzieren. Nur so können wir die große Zahl an Entscheidungen treffen, die uns die Realität täglich abverlangt – ohne Vertrauen würde diese Zahl ins unermessliche wachsen, bis wir nicht mehr in der Lage wären, damit umzugehen. Bruce Schneier stellt das an einer Alltagssituation plastisch dar:

"Just today, a stranger came to my door claiming he was here to unclog a bathroom drain. I let him into my house without verifying his identity, and not only did he repair the drain, he also took off his shoes so he wouldn't track mud on my floors. When he was done, I gave him a piece of paper that asked my bank to give him some money. He accepted it without a second glance. At no point did he attempt to take my possessions, and at no point did I attempt the same of him. In fact, neither of us worried that the other would. My wife was also home, but it never occurred to me that he was a sexual rival and I should therefore kill him." (Bruce Schneier 2012)

Wenn wir das Internet nutzten, bauten viele dabei bisher ebenfalls auf Vertrauen auf. Wir riefen bedenkenlos Web-Seiten auf, die wir für vertrauenswürdig hielten, und verließen uns dabei auf unsere Intuition. Wir verzichteten häufig darauf, Web-Seiten verschlüsselt aufzurufen, da wir darauf vertrauten, dass niemand unsere aufgerufenen Seiten mitliest. Wir verzichteten häufig auf Verschlüsselung unserer E-Mail-Korrespondenz, auch bei vertraulichen Dokumenten – es würde schon keiner mitlesen, und wenn, was sollte schon passieren?

Häufig tun wir das heute noch.

Uns ist natürlich klar, dass dieser Vertrauensvorschuss ein wenig Optimismus erfordert. Wir wissen schon immer, dass es im Internet Kriminelle gibt – unser intuitives Sicherheitsgefühl halten wir dagegen in der Regel für ausreichend. Manche stellen irgendwann fest, dass das zu optimistisch war, aber, hey, das sind Ausnahmen, mir kann das nicht passieren. Vertrauen wird zur Vertrauensseligkeit.

Auch der Vertrauensvorschuss, den wir unserem eigenen Staat entgegenbrachten, war optimistisch, wir hätten es wissen müssen. Wir wissen in Deutschland nach zwei Diktaturen, dass eine freie Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist. Zumindest in der Bundesrepublik hatte sich eine stabile Demokratie herausgebildet – aber auch deren Behörden missbrauchen unser Vertrauen seit Anbeginn, Josef Foschepoth (2012) hat darauf hingewiesen. Ständige Angriffe von politischer Seite auf Vertraulichkeit und Integrität unserer Kommunikation hätten uns ebenfalls warnen müssen. Genannt sei hier nur die Vorratsdatenspeicherung – eine Maßnahme, die vom Bundesverfassungsgericht und vom Europäischen Gerichtshof zurückgewiesen wurde, aber deren Notwendigkeit, ungeachtet solcher Nebensächlichkeiten, immer wieder gebetsmühlenartig betont wird.

Berechtigt war das Vertrauen also wohl nie, heute ist es zerstört. Die Enthüllungen von Edward Snowden (z.B. in Glenn Greenwald 2014) haben sehr deutlich gemacht, dass unsere Kommunikation umfassend überwacht und diese Überwachung immer weiter perfektioniert wird. Diese Überwachung wird parlamentarisch untersucht, in Deutschland vom 1. Untersuchungsausschuss, genannt NSA-Untersuchungsausschuss, der inzwischen BND-Untersuchungsausschuss genannt werden müsste, und den weiteren Gremien des Deutschen Bundestags zur Kontrolle der Geheimdienste. Vergleichbare Einrichtungen gibt es in den USA. Doch es zeigt sich, dass seine Arbeit behindert, Informationen zurückgehalten, und – folgt man den letzten Medienberichten – auch ihm gegenüber gelogen wird. Inzwischen wird darüber berichtet, dass der Bundesnachrichtendienst ausländischen Diensten dabei geholfen haben soll, gegen deutsche Unternehmen Wirtschaftsspionage zu betreiben; eigentlich ist das kaum zu glauben. Erste Strafanzeigen, auch von großen Wirtschaftsunternehmen, sind bereits angekündigt.

Doch in der Online-Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung lesen wir dazu:

"Die Spionage der Vereinigten Staaten in unserer Wirtschaft ist gerechtfertigt, in unserem Interesse und keine Industriespionage. Deutschland ist nun einmal einer der großen Exporteure von Rüstungsgütern, sicherheitskritischen Komponenten und Infrastrukturen nach Russland, China und in den arabischen Raum. Wir brauchen diese Exporte leider. Sie sind Teil unseres Wohlstands, unseres Systems und unserer Stärke und Stabilität in Europa. Aber sie sind auch gefährlich. Wir verkaufen schwierigen Kräften bessere Handlungsmächtigkeit. Das kann furchtbare Konsequenzen haben." (Sandro Gaycken 2015)

Wir fassen zusammen:
  • Um unseren Wohlstand zu sichern, müssen wir Waffen in alle Welt exportieren.
  • Damit stärken wir (auch) Regime, die zu unseren Gegnern werden können.
  • Um dies wieder „einzufangen“, müssen wir die Spionage der US-Amerikaner akzeptieren (und sogar dankbar dafür sein).

Was auf den ersten Blick wie eine gelungene Satire wirkt, ist wohl ernst gemeint. Es gibt Einblick in eine verquere Logik von Militär und Wirtschaft.

Solchen Institutionen blind zu vertrauen, ist offensichtlich naiv und gefährlich. Doch damit gefährden wir auch die Grundlage unserer Gesellschaft. Ohne Vertrauen funktionieren weder Gesellschaft, noch Wirtschaft, noch Politik.

Was tun?

Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten, mit der Situation umzugehen:
  1. Wir müssen das Vertrauen wiederherstellen.
  2. Wir müssen uns selbst schützen und gegen mögliche Angriffe absichern.

Beginnen wir mit dem zweiten Punkt: „Hilf Dir selbst, sonst hilft Dir keiner“, das ist das Credo des Neoliberalismus. Das wäre Victim Blaming, würden vielleicht andere ausrufen. Doch offensichtlich müssen wir unsere Absicherung selbst in die Hand nehmen. Auch Privatpersonen sollten sich um den Schutz ihrer Kommunikation kümmern. Wie das geht, zeigt zum Beispiel Karin Schuler (2014).

Unternehmen und Behörden schützen sich, indem sie Informationssicherheits-Managementsysteme implementieren und Ihre Systeme technisch und organisatorisch gegen Angriffe von außen und innen absichern. Hier gibt es, besonders bei sicherheitskritischen Systemen, ständigen Handlungsbedarf, um mit den Angreifern Schritt zu halten; manche Organisationen haben vielleicht auch Defizite, die sie zunächst ausgleichen müssen.

Technische Maßnahmen zur Absicherung können sein:
  • Verschlüsselung von E-Mails,
  • Verschleierung der Metadaten, zum Beispiel im TOR-Netzwerk,
  • Härtung von Anwendungen und Infrastruktur,
  • Einsatz von Firewalls und Protokollierung von Angriffen,
  • Speicherung von Kommunikationsdaten auf Vorrat.

Wait, what? Aber ja doch, die Vorratsdatenspeicherung ist aus Sicht von Sicherheitsbehörden eine technische Maßnahme zur Absicherung der Kommunikation gegen Cyberangriffe und Kriminalität. Auch hier geht es um Vertrauen – das Vertrauen des Staats gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern. Und es geht um unsere Grundrechte. Unsere Stellungnahme zum IT-Sicherheitsgesetz und die darauffolgende Debatte zeigen, dass hier eine klare Grenze gezogen werden muss (dazu Ingo Ruhmann 2015).

Allein auf Absicherung zu setzen, greift offensichtlich zu kurz. Es ist der Beginn einer Rüstungsspirale im Cyberspace, bei der Angriffs- und Abwehrmaßnahmen auf allen Seiten immer weiter verfeinert werden – NSA-Programme wie BULLRUN zur Entschlüsselung verschlüsselter Kommunikation zeigen das.
Und: Es ist der zum Scheitern verurteilte Versuch, ein soziales Problem technisch zu lösen. Bruce Schneier bringt es erneut auf den Punkt:

"If you think technology can solve your security problems, then you don’t understand the problems and you don’t understand the technology." (Bruce Schneier 2000)

Damit kommen wir zu Punkt 1: Wir müssen das Vertrauen wiederherstellen. Für Cyberpeace bedeutet das: Wir müssen darauf vertrauen können, dass potenzielle Gegner uns nicht angreifen. Wir müssen eine strukturelle Nichtangriffsfähigkeit schaffen.

Dazu benötigen wir als erstes Transparenz. Nicht die Form der totalen Transparenz, die die Geheimdienste schaffen wollen, und die Byung-Chul Han kritisiert, wenn er behauptet:

"Die gegenseitige Transparenz kann … allein durch permanente Überwachung erreicht werden, die eine immer exzessivere Form annimmt. Das ist die Logik der Überwachungsgesellschaft." (Byung-Chul Han 2012)

Und:

"Das Vertrauen, das freie Handlungsräume hervorbringt, kann nicht einfach durch die Kontrolle ersetzt werden." (Byung-Chul Han 2012)

Dennoch benötigen wir sie: als Nachvollziehbarkeit politischer Entscheidungen, als Nachvollziehbarkeit der Arbeitsweise von Organisationen, als Nachvollziehbarkeit technischer Systeme. Es muss kontrolliert werden können, wie militärische und geheimdienstliche Organisationen arbeiten – wenn nicht durch die Öffentlichkeit, dann zumindest durch ein gestaffeltes System vertrauenswürdiger Instanzen. „Die Menschen müssen ihrem Herrscher glauben und vertrauen“, zitiert Han Richard Sennett (2004) – aber das hat offensichtlich nicht funktioniert, auch wenn die Bundesregierung das gerne glauben machen will.

Wir müssen als Gesellschaft in der Lage sein, zu beurteilen, wie es zu politischen Entscheidungen in unser aller Namen kommt. Politische Prozesse müssen in der Öffentlichkeit stattfinden, ohne dabei Rückzugsräume für Unfertiges völlig zu verschließen. Technische Systeme müssen quelloffen sein, und dabei dennoch legitime Interessen an Geschäftsgeheimnissen wahren. Doch Rückzugsräume und Geschäftsgeheimnisse dürfen nicht dazu missbraucht werden können, Fehlverhalten zu vertuschen. Die Grenze ist nicht leicht zu ziehen und sie bedarf eines gesellschaftlichen Konsens. Wir haben diese Regierung gewählt, sie handelt in unserem Namen, wir tragen für ihr Handeln eine (Mit-) Verantwortung.

Letztlich wird es ohne Vertrauen nicht gehen. Doch die Institutionen, denen wir vertrauen sollen, müssen sich dieses Vertrauens würdig erweisen. Die Medienberichte der vergangenen Tage, Wochen und Monate zeigen, dass dafür viel zu tun ist.

Referenzen
  1. Josef Foschepoth (2012): Überwachtes Deutschland. Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik. Göttingen, Bristol: Vandenhoek & Ruprecht
  2. Dirk Fox (2015): Vertrauen. DuD Datenschutz und Datensicherheit 5/2015, Heidelberg: SpringerGabler, Seite 328
  3. Sandro Gaycken (2015): Spionage? Kein Grund zur Aufregung! Frankfurter Allgemeine Zeitung, http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/bnd-affaere-spionage-unter-freunden-kein-grund-zur-aufregung-13564435.html
  4. Glenn Greenwald (2014): Die globale Überwachung. Der Fall Snowden, die amerikanischen Geheimdienste und die Folgen. München: Droemer
  5. Byung-Chul Han (2012): Transparenzgesellschaft. Berlin: Matthes & Seitz
  6. Niklas Luhmann (1968): Vertrauen. 4. Auflage 2000. Stuttgart: Lucius & Lucius
  7. Ingo Ruhmann (2015): Schutz von Grundrechten nicht in Sicht. FIfF-Kommunikation 1/2015, Seite 10
  8. Bruce Schneier (2000): Secrets & Lies. Digital Security in a Networked World. Indianapolis: John Wiley & Sons
  9. Bruce Schneier (2012): Liars & Outliers. Enabling the Trust that Society needs to Thrive. Indianapolis: John Wiley & Sons
  10. Karin Schuler (2014): Wer nicht kämpft, hat schon verloren. FIfF-Kommunikation 1/2014, Seite 34
  11. Richard Sennett (2004): Respekt im Zeitalter der Ungleichheit. Berlin: Berliner Taschenbuch-Verlag

FIfF Kommunikation 2/2015 Kolumne "Betrifft: Cyberpeace"
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